Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen (Impuls für die Gebetskette am 10.5.2020, 18 Uhr)

von Thich Nath Hanh

(buddhistischer Mönch, der sehr intensiv im Dialog zwischen Buddhismus und Christentum war)

Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!

Betrachte es ganz tief:

Jede Sekunde komme ich an,

sei es als Knospe in einem Frühlingszweig

oder als winziger Vogel mit noch zarten Flügeln,

der im neuen Nest erst singen lernt.

Ich komme an als Raupe im Herzen der Blume

oder als Juwel, verborgen im Stein.

Ich komme stets gerade erst an,

um zu lachen und zu weinen,

mich zu fürchen und zu hoffen.

Der Schlag meines Herzes ist Geburt und Tod

von allem, was lebt.

Ich bin die Eintagsfliege,

die an der Wasseroberfläche des Flusses schlüpft.

Und ich bin auch der Vogel, der herabstürzt, um sie zu schnappen.

Ich bin der Frosch, der vergnüglich im klaren Wasser eines Teiches schwimmt.

Und ich bin die Ringelnatter,

die in der Stille den Frosch verspeist.

Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen,

mit Beinen so dünn wie Bambusstöcke.

Und ich bin der Waffenhändler,

der todbringende Waffen nach Uganda verkauft.

Ich bin das zwölfjährige Mädchen, Flüchtling in einem kleinen Boot,

das von Piraten vergewaltigt wurde

und nur noch den Tod im Ozean sucht.

Und ich bin auch der Pirat,

mein Herz ist noch nicht fähig, zu erkennen und zu lieben.

Ich bin ein Mitglied des Politbüros

mit reichlich Macht in meinen Händen.

Und ich bin der Mann, der seine Blutschuld an sein Volk zu zahlen hat

und langsam in einem Arbeitslager stirbt.

Mein Freude ist wie der Frühling.

So warm, dass sie die Blumen auf der ganzen Erde erblühen lässt.

Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom.

So mächtig, dass er alle vier Meere ausfüllt.

Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!

Damit ich all mein Weinen und Lachen zugleich hören kann.

Damit ich sehe, dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.

Bitte, nenne mich bei meinem wahren Namen!

Damit ich erwache!

Damit das Tor meines Herzen von nun an offen seht,

das Tor des Mitgefühls.“